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Die lange Geschichte der low-carb Ernährungsformen

Die ketogene Ernährung ist keine Modeerscheinung oder Trend-Diät, sondern eine lange bewährte, effiziente Ernährungsweise im Spektrum der kohlenhydratreduzierten Kostformen. 

2021 jährt sich die erste Definition einer medizinisch formulierten ketogenen Ernährung zum 100. Mal! Doch ihre Geschichte reicht viel weiter zurück.

 

Epilepsie und die ketogene Ernährung

1921

Die ersten wissenschaftlichen Berichte über den Einsatz des Fastens bei Epilepsie erschienen 1921 in den USA. Ein bekannter New Yorker Kinderarzt, Dr. Rawle Geyelin, beschrieb, wie er bei einem 10-jährigen Kind durch Fasten eine Anfallsreduktion erreicht. In den folgenden Jahren veröffentlichte er Berichte von mehreren Patienten, die über 2-3 Jahre durch das Einhalten längerer Fastenperioden anfallsfrei blieben.

Das Problem war, dass gerade bei Kindern so lange Fastenzeiten kaum durchführbar waren. Damals war schon bekannt, dass Fasten mit einem Abfall des Blutzuckers und einem gleichzeitigen Anstieg der Blutketonkörper einherging. Darum war es naheliegend, in diese Richtung weiter zu forschen und eine Ernährung zu entwickeln, die den Fastenzustand imitierte.

1941

Erste Erfolgsberichte werden von der Mayo Klinik, dem Johns Hopkins Hospital und der Harvard Universität verzeichnet. Zwischen 1941 und 1980 war die ketogene Ernährung eine gängige Therapieform bei Epilepsien im Kindesalter. Erst mit der Entwicklung neuer Medikamente geriet die ketogene Diät in Vergessenheit.

1990 – The Charlie Foundation

Eine maßgebliche Rolle bei der Wiederentdeckung der ketogenen Diät spielte die „Charlie Foundation“. Die Stiftung wurde Mitte der 90er gegründet und hatte zum Ziel, über den therapeutischen Einsatz der ketogenen Diät bei Kindern mit pharmakoresistenten Epilepsien aufzuklären. Gegründet hatten sie die Eltern des kleinen Charlie, die durch eigene Recherche auf die ketogene Diät gestoßen waren und damit ihrem Sohn helfen konnten, bei dem die medikamentöse Therapie nicht angeschlagen hatte. Die Geschichte wurde sogar verfilmt (First Do No Harm). Weitere Infos unter: www.charliefoundation.com 

Zusätzlich zur Arbeit der „Charlie Foundation“ lieferten immer mehr Studien  Evidenz für die Effektivität und Verträglichkeit der Diät.

Berryman, M. Suzanne. „The ketogenic diet revisited.“ Journal of the American Dietetic Association 97.10 (1997): S192-S194.

 

Low-Carb ist kein moderner Trend

Die  kohlenhydratreduzierten und ketogenen Ernährungsformen haben daher Wurzeln die weit zurückgehen.

1848 Jean Anthelme Brillat-Savarin

Brillat-Savarin war französischer Schriftsteller und Gastrosoph. Am bekanntesten seiner Werke, „La Physiologie du Goût“ [1] (deutsch: „Die Physiologie des Geschmacks“), 1826 erschienen, soll er  25 Jahre lang gearbeitet haben. Darin geht es nicht nur um die Zubereitung exquisiter Speisen, sondern grundsätzlich um sehr geistvolle Theorien zu Tafelfreuden, eine Art Lebenslehre. Brillat-Savarin war aber auch der Überzeugung, dass Zucker und Stärke die eigentliche Ursache für Übergewicht sind:

„Sicher ist, fleischfressende Tiere werden nie fett (betrachtet man Wölfe , Schakale , Greifvögel , Krähen , etc.). Pflanzenfressende Tiere werden nicht Fett leicht, zumindest bis Alter sie auf einen  Zustand der Inaktivität reduziert; aber sie können sehr schnell fett werden, sobald sie beginnen, mit Kartoffeln , Getreide, oder jede Art von Mehl zugeführt werden. … Die zweite der Hauptursachen für Übergewicht sind die mehligen und stärkehaltigen Stoffe, die der Mensch zu den Hauptzutaten seiner täglichen Nahrung macht. Wie wir bereits gesagt haben, alle Tiere, die von mehligen Speisen leben werden wohl oder übel fett; und der Mensch ist keine Ausnahme von dem allgemeinen Gesetz“

aus: Brillat-Savarin, Jean Anthelme (1970). The Physiology of Taste. trans. Anne Drayton. Penguin Books. pp. 208–209. ISBN 978-0-14-044614-2.

1864 William Banting

William Banting lebte in London des späten 19. Jahrhunderts und war als Bestatter tätig. Er war schwer übergewichtig und alle Versuche abzunehmen waren erfolglos geblieben. Auf Anregung des Londoner Arztes William Harvey, begann Banting mit einer speziellen kohlenhydratreduzierten und fettreichen Diät. Die Idee dazu hatte Harvey von einem Pariser Arzt namens Claude Bernard, der eine kohlenhydratreduzierte Ernährung zur Behandlung seiner Diabetespatienten einsetzte. Es war seinerzeit die einzige Therapieoption für insulinpflichtige Diabetiker, denn Insulin konnte erst ab 1922 in großen Mengen synthetisiert werden.

Banting nimmt durch die Low-Carb-High-Fat-Ernährung erfolgreich ab und schreibt seine Erfahrungen in einem Büchlein nieder, das er unter dem Titel “Letter on Corpulence, Addressed to the Public” veröffentlichte [2]. Obwohl von der medizinischen Gemeinschaft abgelehnt, wurde das Buch ein Bestseller.  

1885 Dr. Wilhelm Ebstein

Wilhelm Ebstein stammt aus einer großbürgerlichen Familie und wurde 1836 in Niederschlesien geboren. Ebsteins Forschungsschwerpunkt waren die Stoffwechselkrankheiten. Ebstein schrieb im Laufe seiner wissenschaftlichen Karriere 237 Artikel, 72 davon über metabolische Erkrankungen. Er war der Überzeugung, dass Übergewicht, Gicht und Diabetes mellitus hormonelle Störungen waren und die Ursache auf zellulärer Ebene zu suchen sei. Ebstein vertrat die Meinung, dass nicht Fett sondern vor allem Stärke und Zucker maßgeblich an der Entstehung von Übergewicht, Fettleibigkeit, Gicht und Diabetes mellitus beteiligt sei. 1882 veröffentlichte er ein Buch zur Behandlung von Übergewicht und zwei Jahre später eines zur Behandlung von Gicht. In beiden Büchern empfiehlt er eine kohlenhydratreduzierte und fettreiche Ernährung, die nur moderate Mengen an Protein enthält[5].

1930 Vilhjálmur Stefansson

Stefansson, ein Kanadier isländischer Abstammung, war Polarforscher und Ethnologe. Im Auftrag der kanadischen Regierung führte er  zahlreiche Expeditionen in die Arktis, um diese zu kartographieren. Die Expeditionen dauerten oft viele Wochen und es wäre nicht möglich gewesen, genug Proviant mitzuführen. Daher begann Stefansson die Lebensweise der Inuit zu kopieren und für sich und die Expeditionsteams erfolgreich umzusetzen. Das Leben mit den Inuit und seine eigenen Erlebnisse weckten in Stefansson die Faszination für extrem kohlenhydratreduzierte Ernährungsformen.

Allerdings hatte man gerade die Vitamine entdeckt und war der Meinung, dass eine solche Ernährung zu Nierenversagen, Skorbut und anderen extremen Mangelerscheinungen führen müsse. Stefansson, der jahrelang bei den Inuit gelebt hatte, und sein Kollege Anderson willigten ein, an einem Experiment teilzunehmen: Sie würden für 1 Jahr unter medizinischer Aufsicht wie die Inuit  essen. Die Ergebnisse wurden 1930 im Journal of Biological Chemistry veröffentlicht. Stefansson und Anderson waren nicht nur vollkommen gesund, sie hatten zudem keine Mangelerscheinungen und keinen Verlust an Muskelmasse, Kraft oder Konzentrationsfähigkeit aufzuweisen; auch ihr Zahnfleisch war gesund [3].

1939 Dr. Weston A. Price

Weston A. Price war Zahnarzt und entwickelte unter anderem verbesserte Dentalfüllungen, indem er Kombinationen aus Porzellan und Metall kreierte. 1894 begann Price, sich für Ernährung zu interessieren. Bald sah er sie als Hauptfaktor in der Entstehung von Karies und anderen Zivilisationskrankheiten an. Zu dieser Erkenntnis kam er, indem er mit seiner Frau um die Welt reiste, und die verschiedensten Völker untersuchte, die in Abgeschiedenheit von der modernen Zivilisation lebten.

1939 veröffentlicht er seine Ergebnisse in dem  Buch „Nutrition and Physical Degeneration“. Er kommt zu dem Schluss, dass gewisse Aspekte der modernen westlichen Ernährung, vor allem Zucker, Mehl und Pflanzenfette, die Ursache für Nährstoffdefizite, Karies und andere gesundheitlichen Probleme darstellen [4] 

1950 Dr. Wolfgang Lutz

Wolfgang Lutz, geboren und aufgewachsen in Österreich, studierte Medizin in Innsbruck und Wien. Nach Abschluss seines Studiums arbeitet er in Wien am allgemeinen Krankenhaus bis zum Ausbruch des zweiten Weltkriegs. Nach dem Krieg arbeitete er als praktischer Arzt in Salzburg. Seine Passion ist die Ernährungsmedizin. Beunruhigt über den dramatischen Anstieg der „Zivilisationskrankheiten“ entwickelt er im Lauf seiner Forschungen die Idee, dass der Mensch nur schlecht an große Menge an verarbeiteten Kohlenhydraten angepasst ist und dass eine eiszeitliche Jäger-Sammler Ernährung unserer genetischen Anpassung eher entsprechen würde. Er empfiehlt seinen Patienten eine moderne „Steinzeiternährung“ – reich an Fett und arm an Kohlenhydraten. 1967 erscheint sein Buch „Leben ohne Brot“ [6]. Mit einer Übersetzung ins Englische (1986: „Dismantling a Myth: The Role of Fat and Carbohydrates in Our Diet“) hofft er auf wissenschaftlichen Austausch. Doch er scheitert, wie auch der US-amerikanische Kardiologe Dr. Robert Atkins. Lutz´  Buch steht gratis online zur Verfügung: http://www.informed-gmbh.de/cgi-local/informed/iread.pl?befehl=3&buch=lutz

Ausblick

Inzwischen hat sich das Blatt gewendet. Etwa seit der Jahrtausendwende erleben kohlenhydratreduzierte Kostformen, und hier insbesondere die ketogene Ernährung, ein wachsendes Interesse unter Wissenschaftlern, Ärzten, Patienten und Verbrauchern. Allein 2020 sind über 70 wissenschaftliche Artikel in der PubMed (Filter: Humans) veröffentlicht worden. Grund genug, eine Fachgesellschaft wie die KetoMed zu gründen und die Verbreitung, Erforschung, Bewertung und Durchführung kohlenhydratreduzierter Kostformen systematisch und evidenzbasiert vorzunehmen.

 

[1] Brillat-Savarin, Jean Anthelme . 1970. The Physiology of Taste. trans. Anne Drayton. Penguin Books. pp. 208–209. ISBN 978-0-14-044614-2.
[2]William Banting: Letter on Corpulence. Harrison, 1869.  http://www.proteinpower.com/banting/
[3] Walter S. McClellan and Eugene F. Du Bois . „Prolonged Meat Diets with a Study of Kidney Function and Ketosis“ by (J. Biol. Chem. 87: 651-668, July 1930)
[4] Price, Weston A. Nutrition and Physical Degeneration: A Comparison of Primitive and Modern Diets and Their Effects 1939. Paul B. Hoeber, Inc; Medical Book Department of Harper & Brothers.
[5] Ebstein, Wilhelm. 1885. The Regime to be adopted in Case of Gout. https://openlibrary.org/books/OL24361155M
[6] Wolfgang Lutz: Leben ohne Brot – Die wissenschaftlichen Grundlagen der kohlenhydratarmen Diät, 16. Auflage, 2007, ISBN 3-88760-100-9
[7] Gary Taubes. 2001. The Soft Science of Dietary Fat. Science. Vol 291