Unruhe um aktuellen Artikel „The artificial sweetener erythritol and cardiovascular event risk" Was steckt dahinter? Ein Kommentar der KetoMed Gesellschaft
Diese Ende Februar im renommierten Fachjournal Nature Medicine publizierte Studie (Witkowski, Nemet et al., DOI: 10.1038/s41591-023-02223-9, PMID: 36849732) hat für viel Aufsehen und einige Verunsicherung gesorgt. Die in dieser Arbeit präsentierten Daten werden von den Studienautoren so interpretiert, dass der Konsum von Erythrit zu einem signifikant erhöhten Risiko führt, ein „kardiovaskuläres Ereignis“ (Tod oder nicht-tödlicher Herzinfarkt bzw. Schlaganfall) zu erleiden. Wir fassen im Folgenden zunächst die Ergebnisse dieser Studie und danach unsere Einschätzung für Sie zusammen:
1.) Die Autoren nutzten Blutproben einer großen Kohortenstudie (> 1.100 Probanden mit hoher Prävalenz von kardiovaskulären Erkrankungen bzw. Risikofaktoren), um eine sogenannte „untargeted metabolomics“ Analyse durchzuführen. Dies bedeutet, dass eine moderne, Massenspektrometrie-basierte Analytik genutzt wurde, um eine sehr große und vorher nicht festgelegte („untargeted“ = ungezielt) Anzahl von Metaboliten im Blut der Probanden zu messen (= zu identifizieren und zu quantifizieren). Hierbei waren mehrere Vertreter aus der Gruppe der Polyole (organische Verbindungen, die mehrere Hydroxygruppen (–OH) enthalten, auch als Polyalkohole bezeichnet (https://de.wikipedia.org/wiki/Polyole)). Vor dem Hintergrund, dass viele Zuckeraustauschstoffe in die Gruppe der Polyole fallen (z. B. Sorbit, Xylit und Erythrit (https://de.wikipedia.org/wiki/Zuckeraustauschstoffe)) haben sich die Autoren im weiteren Verlauf auf die Untersuchung von Erythrit konzentriert. Der Abgleich der Messdaten mit den klinischen Verläufen aus der Kohorte zeigte, dass die Probanden, die innerhalb von drei Jahren entweder verstarben oder einen nicht-tödlichen Herzinfarkt oder Schlaganfall erlitten (in der Studie als MACE -„major adverse cardiovascular events“ bezeichnet) statistisch signifikant höhere Erythrit-Konzentrationen im Blut aufwiesen (Abbildung 1).
2.) Im nächsten Schritt haben die Autoren eine sogenannte „targeted metabolomics“ Analytik etabliert, um eine präzisere Messung von Erythrit erreichen zu können („targeted“ = gezielt). Dies war nötig, weil mit der o.g. „untargeted metabolomics“ Analyse keine absolut sichere Trennung zwischen Erythrit und strukturell verwandten Polyolen möglich war. Die verbesserte Methodik wurde verwendet, um Blutproben von zwei weiteren Kohortenstudien (> 2.200 bzw. > 800 Probanden, wiederum mit hoher Prävalenz von kardiovaskulären Erkrankungen bzw. Risikofaktoren) zu analysieren. Hier ergab sich ein ähnliches Bild, d. h. Probanden mit einem erhöhten MACE-Risiko wiesen statistisch signifikant höhere Erythrit-Konzentrationen im Blut auf (Abbildungen 1 und 2).
Interessant ist, dass die Konzentration von Erythrit im Plasma der Probanden in allen drei Kohorten mit dem Alter zugenommen hat. Dabei waren die Probanden mit den höchsten Werten (oberstes Quartil) im Schnitt 10-14 Jahre älter als die Probanden mit den niedrigsten Werten (Tabellen S1-3). Die Autoren haben die Ergebnisse auf mögliche Einflussfaktoren wie Alter, BMI und andere Risikofaktoren getestet und dabei in allen Kohorten nach dieser Korrektur eine höhere Erythrit-Konzentration als unabhängigen Risikofaktor identifiziert, wenn Männer und Frauen zusammen betrachtet wurden. Wurden jedoch die Geschlechter getrennt analysiert, hat sich in zwei der drei Kohorten bei den Frauen kein signifikanter Zusammenhang mehr gezeigt (Tabelle S7 und S8).
3.) Basierend auf diesen Ergebnissen stellten die Autoren die Hypothese auf, dass Erythrit die Funktion von Blutplättchen (Thrombozyten) modifizieren kann. Hintergrund dieser Hypothese ist die gut etablierte kausale Bedeutung der erhöhten Aggregation von Thrombozyten für die Bildung von Blutgerinnseln (Thromben) in Blutgefäßen, die das Herz bzw. das Gehirn mit Blut versorgen, für die Pathophysiologie von Herzinfarkt und Schlaganfall. Die Autoren nutzten zwei unterschiedliche Präparationen von Thrombozyten (Thrombozyten-angereichertes Plasma („human platetet-rich plasma“) und aus Blut isolierte Thrombozyten („washed human platelets“)) von gesunden Freiwilligen für eine in vitro Analyse. Hierbei zeigte sich, dass Erythrit dosisabhängig die Aggregation von humanen Blutplättchen signifikant steigerte (Abbildung 3a). Darüber hinaus erhöhte Erythrit die Bildung von Thromben in einem Modell, welches humanes Blut unter Bedingungen physiologischer Scherkräfte untersucht (Abbildung 4a). Abschließend wurden diese Ergebnisse noch in einem Mausmodell überprüft. Auch hierbei zeigten sich signifikante stimulierende Effekte von Erythrit auf die Bildung von Blutgerinnseln (Abbildung 4b).
4.) Abschließend führten die Autoren eine pharmakokinetische Studie mit 8 gesunden Freiwilligen durch. Hierbei haben Probanden morgens 300 ml eines mit 30 g Erythrit gesüßten Getränkes innerhalb von 2 Minuten ausgetrunken. Nachfolgend wurden zu bestimmten Zeiten Blutproben entnommen und die Konzentration von Erythrit bestimmt. Innerhalb der ersten 30 Minuten zeigte sich ein bis zu 1.000-facher Anstieg der Erythrit-Konzentration (Basalwerte: 3,84 (3,27–4,14) µM) versus Werte bei 30 Minuten: 5,85 (4,30–7,68) mM (Median (25. und 75. Perzentile)). Bemerkenswerterweise waren deutlich erhöhte Erythrit-Konzentrationen im Blut dieser Freiwilligen bis zu 48 h nach dem Konsum des Süßgetränks nachweisbar.
Kritische Interpretation dieser Studie:
- Kohortenstudien eignen sich sehr gut, um Hypothesen aufzustellen. Kausale Zusammenhänge können mittels Kohortenstudien dagegen nicht bewiesen werden. Dies ist den Autoren der Studie natürlich bekannt und sie erwähnen es auch in der Diskussion („… these studies can only show association and not causation” (Seite 7)). Daher kann mittels dieser Studie nicht eindeutig geklärt werden, ob der Konsum von Erythrit zu einem erhöhten Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall führt. Somit kann auch keine definitive Empfehlung, den Konsum von Erythrit zu reduzieren, aus dieser Studie abgeleitet werden.
- Die Probanden aus den hier untersuchten Kohortenstudien haben alle ein erhöhtes kardiovaskuläres Risiko gezeigt. Daher können die Ergebnisse dieser Studie nicht auf Menschen ohne erhöhtes kardiovaskuläre Risiko übertragen werden. Anders ausgedrückt erlauben die Ergebnisse dieses Artikels keine Beurteilung der Auswirkungen von Erythrit auf die Entwicklung von Herzinfarkten oder Schlaganfällen für gesunde Menschen, die ab und zu oder auch regelmäßig Erythrit konsumieren, z. B. im Rahmen einer Kohlenhydrat-reduzierten Ernährungsform. Auch diese Zusammenhänge sind den Autoren der Studie bekannt, denn sie betonen mehrfach, dass ihre Ergebnisse nur auf Menschen mit erhöhtem kardiovaskulärem Risiko zutreffen.
- Im menschlichen Blut gefundenes Erythrit kann prinzipiell zwei Ursprünge haben: Entweder wurde es mit der Nahrung aufgenommen (= exogen) oder es entstammt dem Stoffwechsel des Probanden (= endogen; Erythrit wird im Rahmen des sog. Pentose-Phosphat-Weges gebildet, einem Seitenarm der Glykolyse). Eine große Schwachstelle der Studie ist die Tatsache, dass zwischen exogenem und endogenem Erythit nicht unterschieden werden konnte. Dies bedeutet, dass die Autoren nicht beurteilen können, ob das gemessene Erythrit mit der Nahrung zugeführt wurde oder aus dem Stoffwechsel der Probanden stammt da keine Information zur Diät der Probanden erhoben wurde. Dies ist umso problematischer, da bereits länger bekannt ist, dass der Pentose-Phosphat-Weg bei Personen mit kardiovaskulären Vorerkrankungen stärker aktiv ist. Dies könnte also sehr gut die in den Kohorten gemessenen erhöhten Erythrit-Konzentrationen erklären, ohne dass der Konsum über Lebensmittel relevant wäre. Dafür spricht auch, dass die Blutproben aus einer Zeit stammten, als der Konsum von Erythrit viel seltener war als etwa heute. Zusätzlich ist zu berücksichtigen, dass die älteren Personen mit höheren Erythritwerten auch mehr Vorerkrankungen hatten. Es ist ebenso unbekannt ob die endogene Erythritproduktion generell mit dem Alter ansteigt.
- Die von den Autoren durchgeführte „Erythritol intervention study“ sehen wir als eine weitere Schwachstelle des Artikels an. Wie weiter oben detailliert beschrieben, besteht die „Intervention“ aus dem Konsum eines mit 30 g Erythritol gesüßten Getränks (300 ml) innerhalb von 2 Minuten auf nüchternem Magen. Dies ist eine typische „Studien-Situation“ und entspricht eher selten einer repräsentativen Frühstück-Situation im „echten Leben“ („real life“). Erythrit-haltige Getränke und Lebensmittel werden typischerweise über den Tag verteilt konsumiert, üblicherweise nicht innerhalb kürzester Zeit ausgetrunken/aufgegessen und das Erythrit liegt dabei sehr häufig innerhalb einer Lebensmittelmatrix vor, die sich verzögernd auf die postprandiale Aufnahme auswirkt. Es ist daher mehr als fraglich, ob die in Abbildung 5 gezeigten Plasmakonzentrationen auch unter „real life“ Bedingungen vorkommen. Darüber hinaus ist völlig unklar, inwieweit eine low-carb- oder ketogene Ernährung die postprandiale Aufnahme von Erythrit beeinflusst. Das intestinale Mikrobiom ist entscheidend an der Verdauung und Resorption verschiedener Substanzen beteiligt und Kohlenhydrat-reduzierte Ernährungsformen können die Zusammensetzung des intestinalen Mikrobioms entscheidend verändern.
Zusammenfassung
Die hier erläuterte und kritisch gewürdigte Studie hat in den Medien (z. B. Berliner Kurier: „Schock-Studie“, https://www.berliner-kurier.de/gesundheit/schock-studie-zero-getraenke-verursachen-herzinfarkt-und-schlaganfall-li.322476), Stern: „Zuckerersatzstoff Erythrit könnte Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall erhöhen“, https://www.stern.de/gesundheit/erythrit-koennte-das-risiko-fuer-schlaganfall-und-herzinfarkt-steigern-33242444.html und Frankfurter Rundschau „Thrombose: Steigt das Risiko durch den beliebten Zuckerersatz Erythrit?“, https://www.fr.de/wissen/thrombose-risiko-zuckerersatz-erythritol-zuckeralkohol-herz-kreislauf-erkrankung-studie-news-92112568.html) für Aufsehen gesorgt und ist von mehreren Wissenschaftlern teilweise heftig kritisiert worden. Auch wir sehen einige kritikwürdige Punkte, z. B. die fehlende Differenzierbarkeit zwischen exogenem und endogenem Erythrit und die fragliche Relevanz der humanen Interventionsstudie für die Fragestellung. Alles in allem muss man den Autoren aber hoch anrechnen, dass sie die Ergebnisse ihrer Studie nicht überbewerten, sondern in der Diskussion (insbesondere im letzten Absatz, Seite 7) explizit darauf hinweisen, dass ihre Ergebnisse suggerieren, dass klinische Studien nötig sind, die die Relevanz von Erythrit (und anderen Zuckeraustauschstoffen) für die Entwicklung kardiovaskulärer Erkrankungen mittels ausreichender Laufzeit und relevanter klinischer Endpunkte untersuchen. Eine derart differenzierte und transparente Darstellung ist bemerkenswert und (leider) eher nicht die Regel bei ernährungswissenschaftlichen Studien.
Praktische Relevanz der Ergebnisse dieser Studie: Wie so oft bei ernährungswissenschaftlichen Studien, erlauben die Ergebnisse keine eindeutigen Empfehlungen. Denn wie oben erläutert kann aus den Studienergebnissen kein kausaler Zusammenhang zwischen Erythrit-Konsum und kardiovaskulärem Risiko abgeleitet werden. Es ist allerdings mehr als fraglich, ob die zur definitiven Klärung benötigten klinischen Studien jemals durchgeführt werden, da diese sehr aufwändig, teuer und fehleranfällig sind. Den Konsum von Erythrit zu beschränken oder auch nicht, bleibt eine individuelle Entscheidung, die Ergebnisse der Studie können in beide Richtungen interpretiert werden. Wir sind uns der Tatsache bewusst, dass dies eine wenig befriedigende Aussage ist, aber ohne Ergebnisse aus gut geplanten, konsequent durchgeführten und transparent analysierten klinischen Studien ist keine definitive Empfehlung möglich.
KetoMed gibt zu bedenken, dass alle Zuckeraustausch- oder -ersatzstoffe in der menschlichen Ernährung aus Sicht der Evolution nicht „vorgesehen“ sind. Wir erkennen an, dass diese Substitute (in Maßen verwendet) eine Zucker-ärmere Ernährung erleichtern können, empfehlen aber, den Fokus auf natürliche Nahrungsmittel zu legen.
Für KetoMed: Ulrike Gonder, Ulrike Kämmerer, Barbara Kofler und Thorsten Cramer
- März 2023